Inhaltssuche

Suchen Sie z.B. nach Artikeln, Beiträgen usw.

Personen- und Kontaktsuche

Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2023
Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2023

Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2024

Bischof Dr. Michael Gerber, Fulda

Hirtenwort hören - mp3

Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2024
Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2024

Liebe Schwestern und Brüder,

seit der vergangenen Fastenzeit haben die Herausforderungen auf unserem Globus weiter zugenommen. Sehr deutlich wird dies in den neu ausgebrochenen kriegerischen Auseinandersetzungen im Heiligen Land und im Nahen Osten. Viele Spannungen in unserer großen Welt aber auch im privaten Umfeld fordern uns ungemein.

Vor diesem Hintergrund möchte ich mit Ihnen heute einen Gedanken teilen. Seit dem vergangenen Sommer beschäftigt er mich nachhaltig. Denn wie in einem Gleichnis erschließt er mir eine wichtige Perspektive, wenn es um die Frage geht: Wie kann uns der Glaube in der Situation unserer Welt und unserer Kirche eine Hilfe und damit eine Orientierung sein? Aus verschiedenen Gleichnissen und Bildreden, im Alten Testament und in den Evangelien, ist uns das Bild vom Weinberg und vom Weinstock vertraut. Bisweilen wird die Sorge Gottes verglichen mit der Sorge eines Winzers um seinen Weinberg. Einige Texte sprechen davon, dass wir bei dieser Sorge Gottes seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind.

Im Weinbau gab es Ende des 19. Jahrhunderts eine einschneidende Veränderung, und das im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Von Amerika ausgehend verbreitete sich ein Schädling, die Reblaus, nach und nach über die verschiedenen Weinbaugebiete Europas. Die Reblaus greift die Wurzel an und zerstört damit nachhaltig die Rebe. Versuche, diese Plage durch klassische Methoden zu stoppen, scheiterten.

Doch im Laufe der Zeit hatten sich in Amerika auch Weinsorten entwickelt, deren Wurzeln gegen die Reblaus resistent geworden waren. Diese importierte man schließlich nach Europa. Sie werden seither für die sogenannte Rebveredelung verwendet. Bei einer Rebveredelung braucht es zwei verschiedene Pflanzen: das ist zum einen die importierte, resistente Rebe und zum anderen ein sogenanntes „Edelreis“. Mit „Edelreis“ bezeichnet man die Rebsorte, deren Wein man später gewinnen will, etwa den Riesling oder die Burgunderrebe.

Beide Pflanzen, die resistente Rebe und das Edelreis, werden jeweils nur eine Handbreit über der Wurzel auseinandergeschnitten. Daraufhin wird der angeschnittene obere Teil des Edelreises auf den unteren Teil, also auf die Wurzel der resistenten Rebe, aufgepfropft. Beide Teile wachsen im Laufe der Zeit zu einer Pflanze zusammen. Von ihrer Wurzel her bringt die so neu zusammengesetzte Pflanze die Resistenz gegen die Reblaus mit. Durch den oben aufgepfropften Trieb des Edelreises hat sie weiterhin die Fähigkeit, Burgunder- oder Rieslingtrauben oder eine entsprechend andere Sorte auszuprägen. Gut 90 Prozent aller weltweiten Weinbaubetriebe arbeiten inzwischen nach diesem Prinzip der Rebveredelung.

Da ist also die junge Rebe. Sie ist schon einige Zeit gewachsen. Sie gibt Anlass zu berechtigter Hoffnung auf einen guten Ertrag. Sie wurde gehegt und gepflegt. Doch jetzt kommt der harte Schnitt. Es wird nicht irgendetwas weggeschnitten, nicht einfach ein Ästchen oder Blättchen. Nein, die Pflanze wird von ihrer Wurzel getrennt. Wir wissen: Ohne Wurzel ist die Pflanze schon in kurzer Zeit nicht mehr lebensfähig. Wo die Wurzel sein sollte, klafft jetzt eine Wunde.

In diesem Vorgang stecken für mich einige Parallelen zu dem, wie viele von uns heute die Entwicklungen in der Kirche und in der Gesellschaft erleben. Oft machen wir die Erfahrung: Es geht an die Wurzel! In kurzer Zeit müssen wir erleben, wie wir vieles verlieren, was wir über Jahre und oft Jahrhunderte als tragend erlebt haben. Mir kommen die vielen Kirchengebäude in den Sinn, die wir in diesen Jahren aufgeben müssen. Für viele Menschen waren und sind sie mit Wurzelerfahrungen ihres persönlichen Glaubens verbunden. Dort wurden sie getauft, dort gingen sie zur Erstkommunion. Andere unter uns erleben, dass ein Chor, ein Verband, eine Gruppierung, für die sie sich seit Jahrzehnten eingesetzt haben, nun an ein Ende kommt. So sagte es mir im vergangenen Herbst einer unserer Ehrenamtlichen: „Ich habe bei so vielen Beerdigungen von Mitgliedern die Fahne unseres Verbandes hinter dem Sarg hergetragen. Bei meiner Beerdigung wird wohl niemand mehr da sein, der die Fahne trägt.“ Bei anderen Menschen ist es die Erfahrung, dass die nachfolgenden Generationen – die eigenen Kinder und Enkelkinder – nicht mehr in den Glauben hineingewachsen sind. Leidvoll stellen viele ältere Gläubige fest: „Über Generationen gab es in unserem Haus einen Herrgottswinkel. Wenn wir einmal nicht mehr da sind, dann wird auch der Herrgottswinkel in diesem Haus nicht mehr da sein.“

Diese Einschnitte treffen uns sehr persönlich und existenziell. Hier fehlt nicht einfach irgendetwas. Hier fehlt das, was von unserer Erfahrung her eine Wurzel ist für künftiges Leben. In welcher Haltung begegnen wir dieser Krise? Der Vorgang der Rebveredelung gibt mir einige Impulse, um hier zu einer Haltung zu finden, die aus dem Glauben genährt ist.

Ein erster Impuls: Gestehen wir uns freimütig ein: Wir sind mit einer neuen Qualität der Herausforderung konfrontiert. Die Wurzel ist verwundet. Den Winzern vor gut 100 Jahren wurde schnell klar: Hier sind wir existenziell herausgefordert. Dieses Problem lösen wir nicht mit der Optimierung bisheriger Praktiken – etwa mit noch mehr Wasser, noch mehr Dünger, noch mehr Pflege. Die Lösung dieses Problems müssen wir auf einer anderen Ebene suchen.

Der zweite Impuls: Es geht nicht ohne ein radikales Loslassen.Das Wort „radikal“ kommt vom lateinischen Wort „radix“, zu Deutsch: „Wurzel“. Ohne radikale Schnitte geht es nicht. Bei der Rebveredelung wird die gefährdete Wurzel nicht weiter geschützt, sondern abgeschnitten. Das jedoch verschärft zunächst einmal die Verlusterfahrung. Der Wurzel-Schnitt hinterlässt eine tiefe Wunde. Wir fragen uns: Wo und wie können wir über solche Wunden, solche Verlusterfahrungen in unserer Gemeinde, unserer Gruppierung, unserer Familie sprechen?

Dritter Impuls: Die Lösung liegt in der Öffnung für die fremde Wunde. Die fruchtbringende Edelpflanze entwickelt ihre Abwehrkräfte nicht aus sich selbst. Dazu braucht sie einen anderen Weinstock von einer anderen Rebsorte. Auch dieser Rebstock hat seine Wunde. Ihm fehlt der Trieb nach oben. Rebveredelung: Zwei verwundete Pflanzen begegnen einander. Das gehört zu meiner Vision einer erneuerten Kirche. Unsere Zeitgenossen sollen von uns sagen: Ja, die Christen spüren ihre Wunden. Sie blenden diese Wunden nicht aus. Sie nehmen den Schmerz wahr. Doch dabei bleiben die Christen nicht auf sich selbst fixiert. Sondern gerade mit der Erfahrung ihrer eigenen existenziellen Wunden werden sie sensibel für die Wunden, die andere Menschen an Leib und Seele haben.

Der vierte Impuls: Wunden verbinden.Als ich mich mit einer Betroffenen sexualisierter Gewalt über diesen Vorgang der Rebveredelung ausgetauscht habe, hat sie mich auf die doppelte Bedeutung des Wortes „Wunden verbinden“ aufmerksam gemacht. Wunden werden in der Regel einzeln verbunden: Eltern verbinden Verletzungen ihrer Kinder, Sanitäter leisten dadurch Erste Hilfe. In anderen Fällen können Wunden – wie bei der Rebveredelung – zwei Organismen dauerhaft miteinander verbinden. Darin steckt für mich die Vision, dass Menschen über uns Glaubende sagen: Für die Christen wird die Erfahrung der eigenen Wunde zum Anstoß, neu die Verbindung mit den zunächst Fremden zu suchen. Die Christen leben in der Hoffnung, dass sich in dieser Verbindung neues Leben zeigt. So ist meine Vision für die Kirche: dass sich gerade in Zeiten großer Polarisierung in der Verbindung von Wunde zu Wunde neue Perspektiven zeigen.

Warum? Dazu schließlich der fünfte Impuls: In der Verbindung von Wunde zu Wunde Jesus entdecken. Im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“ (Joh 15,5). Zur Zeit Jesu haben die Menschen weniger an das gedacht, was wir heute als Rebveredelung kennen. Trotzdem passt für mich eine solche heutige Deutung dieses Jesuswortes. Der Auferstandene will aufs Neue, auf radikale Weise unsere Wurzel werden. Die fruchtbare Verbindung mit ihm gelingt in der Verbindung von Wunde zu Wunde. In den Wunden der anderen zeigt sich der Auferstandene. Der Auferstandene mit seinen Wunden ist für Maria von Magdala am Ostermorgen zunächst einmal der Fremde. Für Thomas ist das, was er zu hören bekommt, befremdlich. Es erfordert eine veränderte Blickrichtung, so wie bei Maria von Magdala, es fordert einen Sprung ins Wasser, so wie bei Petrus, um zu begreifen, dass in jenem Verwundeten mir der Auferstandene gegenübersteht. Thomas erlebt die Verbindung von Wunde zu Wunde sehr handgreiflich. Mit seiner Hand darf er seine innere Wunde des Zweifelns in die Seitenwunde Jesu legen. Durch die Berührungen von Wunde zu Wunde erfahren die Zeuginnen und Zeugen des Ostermorgens ihre Berufung und damit ihre Würde: Wir sind Gottes Edelreis. Wir sind dazu berufen, Frucht zu bringen. In der Verbindung von seiner Wunde mit unserer Wunde will er uns neu zur Wurzel werden. Werden wir so in einer Welt großer Spannungen und Polarisierungen sensibel für die Wunden derer, die uns zunächst fremd oder befremdlich erscheinen.

Liebe Schwestern und Brüder, ich bin überzeugt:

In unserer eigenen Wunde und in der Wunde des Fremden will Jesus sich zeigen. Bei der Rebveredelung gleicht der Schnitt im Edelreis von der Form her dem Buchstaben „Omega“. Dieser trifft auf den Schnitt im fremden Wurzelstock, der wiederum dem Buchstaben „Alpha“ nachgeformt ist. Wie oft erleben wir die Schnitte, Einschnitte und Wunden bei uns als „Omega“, also als Ende, als Sterbephase ohne weitere Perspektive. Dagegen Ostern: Wo damals die Jünger und wo heute wir unsere Wunden schmerzlich als Omega erleben, da ermöglicht der Auferstandene einen Neuanfang. Mit seiner Wunde ist er unser Alpha. Was wir in der Osternacht beim Anbringen von Alpha und Omega an der Osterkerze bekennen, möge uns in diesen vierzig Tagen zur tiefen Überzeugung werden: Wunden verbinden und werden verbunden in

Christus,

gestern und heute,

Alpha und Omega.

Sein ist die Zeit

und die Ewigkeit.

Sein ist die Macht

und die Herrlichkeit

in alle Ewigkeit.

Amen.


Auf die Fürsprache des heiligen Bonifatius, der heiligen Elisabeth von Thüringen und aller Heiligen segne uns der gute und barmherzige Gott, der + Vater und der + Sohn und der + Heilige Geist. Amen.

Fulda, am 2. Februar 2024,
am Fest Darstellung des Herrn


Dr. Michael Gerber
Bischof von Fulda