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Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2023
Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2023

Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2023

Bischof Dr. Michael Gerber, Fulda

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Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2022
Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2022

Liebe Schwestern und Brüder!

Viele Nachrichten der vergangenen zwölf Monate haben ein gemeinsames Vorzeichen: Polarisierungen nehmen zu. Das ist spürbar auch in unserer Kirche der Fall.

Es ist meine Überzeugung: Verkündigung geschieht wesentlich durch die Art und Weise wie wir leben und vor allem, wie wir miteinander leben. In der aktuellen Situation der Kirche können wir darin einen Auftrag erkennen, auf der Grundlage des Evangeliums einen konstruktiven, schöpferischen Weg im Umgang mit solchen Spannungen zu suchen. Wo Menschen das bei uns erleben, könnte das in unserer Gesellschaft wegweisend für das Leben in und mit Konflikten sein. Zugleich können Menschen so neu auf das Evangelium aufmerksam werden. Hier haben wir als Kirche allerdings selbst noch großen Entwicklungsbedarf.

Eine neue Konflikt-Kultur, die dem Evangelium gemäß ist, beginnt damit, dass wir Spannungen, Polarisierungen und die zugrundeliegenden Ursachen ernst nehmen. Dadurch wird zugleich erfahrbar, dass der Umgang mit solchen Spannungen nicht zum Bruch, nicht zur Radikalisierung von Positionen und zur Abschottung gegenüber Andersdenkenden führt. Ehrlich müssen wir zugeben, dass all diese Phänomene in unserer Kirche in vielfältiger Ausprägung zu beobachten sind. Unsere Reaktionen auf Spannungen und Polarisierungen lassen oft kaum erkennen, dass uns das Evangelium leitet. Die Fastenzeit beginnt mit dem Aufruf zur Umkehr, mit der Bereitschaft, alte Wege hinter sich zu lassen und neu nach der Spur des Evangeliums zu suchen. Doch wie kann das konkret aussehen?

Mich bewegt vor diesem Hintergrund nachhaltig das Arbeitsdokument für die aktuelle kontinentale Etappe der universalkirchlichen Synode. Papst Franziskus hatte diese im Oktober 2021 eröffnet und in einer ersten Etappe aus den Bistümern um Rückmeldung zu einer Reihe von Fragen gebeten. Die Rückmeldungen aus den Diözesen – sehr intensiv auch aus unserem Bistum – haben die Bischofskonferenzen gebündelt nach Rom weitergeleitet. Daraus ist dieses Arbeitsdokument entstanden. Es besteht zu einem guten Teil aus Originalzitaten der Beiträge aus unterschiedlichen Teilen der Weltkirche.

Die Lektüre dieses Dokumentes, das Sie im Internet finden, lege ich Ihnen sehr ans Herz. Der Titel greift ein Zitat aus dem 54. Kapitel bei Jesaja auf. Dort heißt es:

„Mach den Raum deines Zeltes weit, spann deine Zelttücher aus, ohne zu sparen! Mach deine Zeltseile lang und deine Zeltpflöcke fest.“ (Jes 54,2)

Bei Jesaja ist das Bild vom geweiteten Zelt Ausdruck der Hoffnung: Nach der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und des Exils wird sich das Gottesvolk wieder ausbreiten. Zerstörte Städte werden wieder besiedelt. Das Arbeitsdokument der Synode setzt bei der Deutung des Bildes vom geweiteten Zelt einen eigenen Akzent. So ist dort zu lesen:

„Die Vision von einer Kirche, die zu radikaler Inklusion, gemeinsam erlebter Zugehörigkeit und tiefer Gastfreundschaft fähig ist, so wie Jesus sie lehrt, steht im Mittelpunkt des synodalen Prozesses (…).“ (Nr. 31)

Bei einem Rombesuch im vergangenen Oktober traf ich Kardinal Grech [sprich: greck]. Ihn hat der Heilige Vater beauftragt, den Prozess der Synode voranzubringen. Unser Gespräch drehte sich vor allem um die Frage: Was bedeutet es, mit der Kirche einen Weg zu suchen, wie sie diese Vision des geweiteten Zeltes verwirklichen kann? Viele Spannungen in unserer Kirche rühren daher, dass die Frage, „Wer gehört unter welchen Bedingungen dazu?“, sehr kontrovers diskutiert wird. Dabei machte mich Kardinal Grech darauf aufmerksam, dass jedes Zelt notwendigerweise von Spannungen lebt. Im Arbeitsdokument ist von den Seilen die Rede, die jedes Zelt braucht. Sie müssen gespannt sein, um so den Druck der Zeltbahnen einerseits und des Windes andererseits ausgleichen zu können. Wir sprachen darüber, inwiefern wir folglich Spannungen in unserer Kirche als grundsätzlich notwendig betrachten müssen.

Doch welche Spannung hilft der Kirche, ihre Sendung als geweitetes Zelt Gottes zu leben? Und welche Spannungen wirken sich dagegen zerstörerisch aus?

Wenige Wochen nach der Begegnung mit Kardinal Grech hatte ich einen Abend mit den Verantwortlichen eines Pfadfinderstamms unseres Bistums. Wir sprachen auch über unsere Erfahrungen mit Spannungen in Kirche und Gesellschaft. In diesem Zusammenhang schilderten mir meine Gesprächspartnerinnen, wie ein Pfadfinderzelt, eine sogenannte Jurte, aufgebaut wird. Das hat mich gepackt. Denn diese Schilderung erst hat mir das tiefer erschlossen, was mit dem Bild von der Kirche als dem geweiteten Zelt gemeint sein kann.

Pfadfinderinnen und Pfadfinder sind keine Schönwetter-Camper. Sie sind es gewohnt, auch bei widrigstem Wetter ihr Zelt aufzubauen. Sie stellen sich den unterschiedlichen Gegebenheiten. Sie halten Wind und Regen aus, um das Zelt aufzubauen, das vielen Schutz bieten soll. Für mich ist das ein sehr ermutigendes Bild.

Idealerweise wird eine Jurte von zwölf Personen aufgebaut. Die Zahl zwölf begegnet uns in der Bibel häufig, etwa bei den zwölf Stämmen Israels. Wenn Jesus den Kreis der Zwölf in seine Nachfolge beruft, dann knüpft er bewusst daran an und drückt damit aus: Das ganze Gottesvolk, in seiner Fülle und in der Vielfalt seiner Glieder, ist zur Gemeinschaft mit dem Herrn gerufen. Eine Jurte kann keiner für sich allein aufbauen.

Beim Aufbau des Zeltes hat jede und jeder zunächst die eigene Zeltplane, die Zeltstange und das entsprechende Seil zum Abspannen im Blick. Mit der Zeit verknüpfen sich die Planen zu einem Rundzelt. Schließlich zieht jede und jeder in die je eigene Richtung. Das erscheint zunächst paradox: Nicht obwohl, sondern weil jede und jeder in eine andere Richtung zieht, wird das Zelt aufgespannt.

Vom eigenen Anknüpfungspunkt aus kann ich allerdings in verschiedene Richtungen ziehen. Daher braucht es eine hohe Sensibilität für das Ganze, um beim Ziehen die Richtung zu wählen, die tatsächlich dem Aufbau des Zeltes dient. Das Bild vom Zelt sagt mir: Ich darf, ja ich muss sogar in eine Richtung ziehen. Sonst fehlt dem Zelt etwas. Aber ich brauche die Bereitschaft, mich ergänzen und mich korrigieren zu lassen. Nur so wird mein Ziehen konstruktiv. Durch diese Sensibilität kann ich in eine Haltung hineinwachsen, die der Bibel sehr wichtig ist: Es geht um Gottes Zelt und er bleibt der entscheidend Handelnde. Wir bauen nicht irgendein Zelt auf. Vielmehr sind wir dazu berufen, an SEINEM Zelt mitzubauen.

In konfliktreichen Situationen gibt es bisweilen den inneren Reflex: Eigentlich wäre es doch einfacher, diese und jene Person wäre nicht mehr da, ohne sie wäre es leichter. Wenn ich so einen Reflex bei mir spüre, dann erschrecke ich – im Zwischenmenschlichen und im Blick auf die Gemeinschaft der Kirche. Denn nicht ich entscheide, wer zur Kirche gehört. Vielmehr ruft Gott in Freiheit Menschen in seine Kirche; er ruft sie, mitzubauen an seinem Zelt. Ob mir das passt, ist kein Kriterium.

Mein Impuls für die Fastenzeit ist deshalb: Ich übe mich in einer Haltung, die versucht, gerade bei Spannungen diesem Reflex zu widerstehen. Das tue ich aus der tiefen Überzeugung: Jesus ist auch heute unter uns, um das ganze Gottesvolk zu sammeln, gerade auch jene, mit denen ich mich so schwertue. Wo kann ich gerade durch eine schwierige Beziehung etwas neu lernen über mich, über die Kirche und über Gott?

Blicken wir noch einmal auf die unterschiedlichen Anknüpfungspunkte. Was ist mein Anknüpfungspunkt beim Evangelium? Welche Botschaft des Evangeliums ist mir tief ins Herz gefallen? Und zugleich muss ich verstehen lernen, dass es andere gibt, die beim Evangelium ihren persönlichen Anknüpfungspunkt an einer anderen Stelle haben. Da sind die, die verstärkt die geistliche Dimension im Blick haben und jene, die sich ganz stark um den sozialen Aspekt mühen. Da sind diejenigen, die den Schatz der Tradition entdeckt haben und jene, die die Abgründe so manch kirchlicher Entwicklung existenziell erlebt haben. Es gibt viele weitere und zunächst gegensätzlich erscheinende Anknüpfungspunkte.

Wo jede und jeder vom eigenen Anknüpfungspunkt aus mit dieser Sensibilität fürs Ganze zieht, kommt Spannung in das Zelt. Das ist beim Zelt der Pfadfinder so und im übertragenen Sinne auch beim Zelt der Kirche. Aber ohne dieses Spannen und Nachspannen des Zeltes geht es nicht. Nur so kann das Zelt sich entfalten und seiner Aufgabe gerecht werden: „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ sein (LG 1).

Schließlich steht das Zelt der Pfadfinder. Doch bei aller Betonung der Notwendigkeit der Spannung stellt sich nun die kritische Frage: Worin besteht die Mitte? Pfadfinder stellen in der Mitte ihres Zeltes gerne eine Feuerschale auf. Das Feuer wärmt und führt zur Gemeinschaft zusammen.

Wir sind auf dem Weg nach Ostern. Im Johannesevangelium begegnet uns zweimal ein Kohlenfeuer. Es ist Petrus, der zweimal an einem solchen Kohlenfeuer mit einer ungeahnten Spannung konfrontiert wird.

Zuerst in der Nacht der Gefangennahme: Petrus folgt Jesus. Schließlich findet er sich an einem Kohlenfeuer wieder. Unvermittelt wird Petrus gefragt, ob auch er zu Jesus gehört. Wir kennen die Antwort. Die Spannung, die in dieser Frage für Petrus liegt, löst er mit einem Nein auf. Er fürchtet um sein eigenes Leben. Petrus leugnet Jesus in diesem entscheidenden Augenblick. Er scheitert an seinem eigenen Anspruch. Das Seil zwischen Petrus und Jesus scheint ein für alle Male gerissen.

Aber es bleibt nicht bei diesem Nein am Kohlenfeuer. Dem Johannesevangelium zufolge hat Petrus sich mit anderen Jüngern nach Ostern an den heimatlichen See zurückgezogen. Vielleicht wollte er auch vergessen oder verdrängen, welche Rolle er in jener Nacht der Entscheidung gespielt hat. Doch wartet auf Petrus ein spannungsreicher Morgen. Die Nacht – es ist die Zeit, in der er dem Gewohnten wieder nachgeht, dem Fischen. Aber die Netze bleiben leer. Wider aller Vernunft bringt am Morgen ein neuerliches Auswerfen der Netze den ersehnten Erfolg. Doch erst am Ufer, am Kohlenfeuer, versteht er tiefer, was für ihn an seinem persönlichen Ostermorgen geschehen ist: Er begegnet dem Auferstandenen, der verlassen von Petrus und den meisten Jüngern am Kreuz ausgespannt zwischen Himmel und Erde hing. Doch Leiden, Tod und Auferstehung Jesu haben ein für alle Mal den Lauf der Geschichte verändert. Und so erlebt Petrus Jesus als den, der an ungewohntem Ort leise und liebevoll wieder den Faden spannt und so das zerrissene Band zusammenknüpft.

Entdecken wir in dieser Fastenzeit gerade inmitten aller Spannungen in unserer Kirche und unserer Gesellschaft Jesus als den, der neu, unerwartet und ungewohnt das zerrissene Band zusammenknüpft und uns damit befähigt, als Kirche die Vision seines weiten Zeltes zu leben. Gerne teile ich mit Ihnen in den kommenden Wochen solche Erfahrungen, etwa bei drei digitalen Gesprächsabenden. Hinweise dazu finden Sie im Internet oder in Ihren Pfarrnachrichten.

Auf dem Weg nach Ostern segne uns auf die Fürsprache des heiligen Bonifatius, der heiligen Elisabeth von Thüringen und aller Heiligen der gute und der barmherzige Gott, der + Vater und der + Sohn und der + Heilige Geist. Amen.

Fulda, am 25. Januar 2023,
am Fest der Bekehrung des hl. Apostels Paulus

Dr. Michael Gerber
Bischof von Fulda